Eigentlich wollte ich über meine Erfahrungen mit dem Tod schreiben, aber ich glaube ich sollte anders beginnen.
Der liebe Streit ums Erbe. Das liebe Geld. Es zerstört. Ich bin mit meiner Mutter und meiner Großmutter in einem großen alten Haus Baujahr Anno Achtzehnhundertirgendwas in einem 500-Seelen-Dorf aufgewachsen. Als ich 13 war, starb meine Großmutter. Wir blieben in dem alten Haus, das wohl mal vor dem Krieg eine Fleischerei war, wohnen. Nach der Wende steckte meine Mutter all ihre Ersparnisse in das Haus. Wir bekamen ein Bad – jepp wir hatten vorher keins und ich erspare mir detaillierte Ausführungen über Toilettengänge im Winter. Das Dach wurde neu gemacht, Ölheizung eingebaut, Fenster neu (hee hee, ich konnte plötzlich auch im Winter in meinem Zimmer schlafen und hatte keine Eisblumen mehr am Fenster) und und und. Dann 10 Jahre nach dem Tod meiner Großmutter, als ich das Haus verließ und meine Mutter beschloss, dass sie, wenn sie in Rente geht. zu mir in den goldenen Westen folgt, meldete plötzlich mein Onkel Ansprüche. Er meinte, wir hätten ja die letzten 10 Jahre kostenlos in dem Haus gewohnt. Und er wäre ja gleichberechtigter Erbe. Er setzte eine Miete an und rechnete uns vor, was wir ihm schuldeten. Freundlicher Weise war er bereit unsere Investitionen zu verrechnen. Ich war damals Anfang 20 und hatte von Tuten und Blasen keine Ahnung. Heute würde ich ihm glaube einiges von Wertsteigerung etc. unter die Nase halten. Wenn wir das Haus so gelassen hätten, wie es war, dann hätte man eigentlich für das da Wohnen noch Geld bekommen müssen. Aber egal. Meine Mutter zog es den Boden unter den Füßen weg. Nervenzusammenbrüche, Herzprobleme etc. Sie erzählte mir, dass sie – meine Großmutter, mein Onkel und meine Mutter – eigentlich schon weit vor dem Tod meiner Großmutter ausgemacht hatten, dass wir weiter in dem Haus mietfrei wohnen können. Man ist ja so naiv und vertraut auch ohne Testament. Weil Blut ist dicker als Wasser. Aber man vergießt Geld ist dicker als Blut. Als es dann Richtung Verkauf des Hauses ging, wurde es mehr oder weniger zu einer Schlammschlacht. Und als meine Mutter wiedermal am Boden war, sagte ich nur „Scheiß auf das Geld. Wir brauchen es nicht. Sollen sie glücklich werden damit. Lass gut sein!! Ich verdien gutes Geld. Wir brauchen dieses Geld nicht!“ Ich hatte keinen Bock auf Anwälte, weiteren endlosen Streit. Das Band zwischen den Geschwistern, die nie gedacht hatte, dass sie je etwas entzweien könnte, war doch eh schon kaputt. Mir viel die Entscheidung leicht, weil während diese Zeit kamen bei mir immer wieder bestimmte Erinnerungen hoch …
Ich war 12. Meine Mutter und ich kamen aus dem Urlaub zurück. Meine Mutter erschrak über den Anblick ihrer eigenen Mutter. Wie stark sie in den 2 Wochen abgebaut hatte. Sie hatte in letzter Zeit schon abgenommen. Der Hausarzt hatte Diabetes diagnostiziert. Als sie dann auch noch zusammenbrach, brachten wir sie ins Krankenhaus. Ich kann mich nur noch daran erinnern, dass sie dort sehr zügig operiert wurde. An den Krankenhausbesuch habe ich nur die Erinnerung an den Mann, der am Nebenbett saß und meiner Mutter die ganze Zeit auf die Beine starrte. Schon interessant, was für einen als Kind wichtig erscheint. Meine Mutter begann in der Zeit als meine Großmutter im Krankenhaus war, die Zimmer meiner Großmutter komplett zu renovieren. Tapezieren, neuer Teppich, sogar ein neuer Kachelofen. Als Kind liebte ich es zu renovieren, wie wohl jedes Kind. Aber ich wusste, diesmal war es anders. Es war nicht geplant. Eines Tages als meine Mutter den Flur tapezierte, kam ich die Treppe runter, setzte mich auf die unterste Stufe, wie ich so oft tat, schaute sie an und fragte „Warum tust du das alles?“ Meine Mutter drehte sich zu mir. Ihr liefen die Tränen über das Gesicht „Oma wird sterben. Oma hat Krebs. Und sie soll es noch einmal so schön haben, wie wir es ihr machen können.“ Ich weiß nicht mehr ob ich in dem Moment etwas fühlte, aber ich kannte jetzt die Wahrheit.
Die nächsten Monate waren dadurch geprägt, dass wir mit ansehen durften, wie ein Mensch immer weniger wird. Wie er zum Schluss nur noch Haut und Knochen ist. Leider habe ich keine Erinnerungen mehr daran, wie viel Zeit ich noch mit ihr verbracht habe. Schließlich war ich mittlerweile 13 und die Frau mit der ich den Großteil meiner Kindheit verbracht hatte, rückte naturgemäß in den Hintergrund. Ich erinnere mich nur noch daran, dass sie vollgepumpt mit Morphium nicht mehr Herr ihrer Worte war. Ich erinnere mich, wie sie braune Brühe spuckte. Ich erinnere mich an die Schnabeltasse und den Stuhl mit Loch in der Mitte und dem Eimer druter für die Notdurft. Ich erinnere mich wie meine Mutter immer mehr an ihre Grenzen ging. Wie sie weinend auf dem Sofa lag und darum betete, dass meine Oma nicht mehr so lange zu leiden hat. Und ich war mit meinen 13 Jahre der einzige Mensch, der ihr Halt und Kraft gab. Ich erinnere mich daran, dass ich mich fragte, ob meine Mutter selbst die Morphiumtabletten schluckt (vor allem nach dem Tod meiner Großmutter, als die Tabletten immer noch auf ihrem Nachtschrank lagen) Hab ich je geweint? Ich weiß es nicht mehr. Wie oft war mein Onkel da? Ich weiß es nicht. Es kann nicht häufig gewesen sein. Ich würde mich erinnern. Er wohnte ja so weit weg, in seinem schönen schicken selbst gebauten Haus mit Telefon.
Dann irgendwann im Februar, kam ich aus der Schule und meine Mutter hatte sich inzwischen krank schreiben lassen, um 24 Stunden da zu sein und kochte das Essen und bat mich, zu schauen, wie es Oma geht. Ich fand sie vor ihrem Bett liegend auf dem Boden. Sie war tot. Ich schrie nach meiner Mutter. Wir legten sie zurück ins Bett. Sie hatte ins Bett gemacht. Wir wuschen sie noch mal und wechselt ihr Nachthemd. Wir hatten kein Telefon und meine Mutter ging zum Nachbarn, um den Arzt zu rufen, und lies mich allein. Ich setzte mich wieder auf die unterste Stufe der Treppe und wartete. Allein. Nebenan meine Tote Oma. Die Frau mit der ich die meiste Zeit meiner Kindheit verbracht habe. Zumindest habe ich mehr Erinnerungen an sie als an meine Mutter. Wobei ich meiner Mutter kein Unrecht tun will. Sie war und ist eine gute und liebevolle Mutter. Aber meine Oma war die, mit der ich die Nachmittag und Abend Karten spielend und singend verbracht habe. Unter deren Tisch ich meine Höhlen gebaut habe. Mit der ich gebastelt habe. Bohnen geschnippelt habe. Die mich beaufsichtigt hat, wenn ich im Winter aus heißen Kerzenwachs Figuren formte. Nun war sie tot und ich saß auf der Treppe. Und ich fühlte nichts. Ich war kalt. Wie auch die nächsten Tage. Erst auf der Beerdigung habe ich geweint. Aber nicht weil ich traurig war, sondern weil alle um mich herum geweint haben. Das war das erste mal, dass ich diese Gefühlskälte gespürt habe. Mittlerweile kenne ich sie. Ich weiß nicht, ob es es Schutzmechanismus ist. Aber ich habe gelernt damit umzugehen und darauf zu warten, dass der Eisberg taut. Komisch. Es heißt doch immer, die Erinnerungen sind um so stärker, je stärker die Emotionen sind. Ich hatte keine Emotionen. Aber die Erinnerung ist immer noch da, als wäre es gestern gewesen.
Ich musste jeden Tag durch dieses Zimmer durch. Dieser Geruch nach Tod, nach Extrementen. Ich roch ihn jeden Tag. Ich weiß nicht mehr, wie lange es gedauert hat, bis er endgültig verschwand. Lange sehr lange.
Als meine Mutter das Haus verkauft hatte und wir sie abgeholt haben, führte mich mein letzter Weg an das Grab meiner Großmutter, wie jedes Mal, wenn ich da war, und ich weinte. Manchmal bedauere ich es, dass es so weit weg ist.
Ich hab meinen Onkel nie wieder gesehen und seine Frau, die ich so lange ich mich erinnern kann, nie mochte. Die Frau mit schwäbischen Wurzeln, die nach dem Tod ihrer eigenen Eltern sagte, dass sie aber beim nächsten Erbe nicht noch mal so schlecht wegkommen will! Meine Oma hat sie auch nie gemocht. Ich vermute ja, weil sie mit ansehen musste, wie ihr Sohn unter den Pantoffeln dieser Frau stand. Kann mich jedenfalls nicht daran erinnern, dass er mal nicht das tat, was sie wollte. Und meine Mutter sagte nach allem zum Schluss „Oma und du, ihr habt es immer gewusst!“ Ich bedauere nur, dass ich auch keine Kontakt mehr zu meiner Cousine habe. 12 Jahre älter als ich. Jemand der mir immer am nächsten war, von meiner kleine Familie. Und ich bedauere, dass ich ihre Jungs nicht aufwachsen sehen habe. Wird nicht einer davon bald 18? Der wollte mich doch mal heiraten. Aber auch sie hat sich irgendwann gegen uns gestellt. Jemand dem ich das nie zugetraut hätte. Nicht auf diese Art wie es passiert ist. Das wäre zu lang um das auch noch auszuführen. Aber nun ja. Blut ist dicker als Wasser und Geld dicker als Blut.
Aber sonst. Sonst bedauere ich nichts. Nimm doch dein Geld und werd glücklich! Manchen Dinge kann man nicht kaufen!