Urlaub in Estland – Prolog

Als ich ein Kind war, sagten meine Freunde immer, dass meine Oma komisch spricht. Mir ist das nie aufgefallen, weil ich es ja gewohnt war. Aber ich hatte immer eine Antwort: Sie kommt aus Estland. Ich wusste, dass sie im Zweiten Weltkrieg Estland verlassen mussten und nach Deutschland kamen. Meine Oma sprach kein Wort Deutsch als sie hier ankam. Da bleibt eben ein kleiner Akzent.

Meine Großeltern und ich 1977
Meine Großeltern und ich 1977
Meine Großeltern mit meinem Onkel in Estland 1937
Meine Großeltern mit meinem Onkel in Estland 1937

Mein Großvater  – Heinrich der Sechste oder so – starb als ich fünf war mit über 90. Er war Deutschbalte. Soll heißen, seine Familie war deutsch und ließ sich irgendwann einmal in Estland nieder. Wann genau weiß ich nicht. Wie so viele andere deutsche Familien auch, als Estland und Lettland von Deutschen (Deutscher Orden) besetzt war. Meine Großmutter war eine echte Estin ohne deutsche Wurzeln. Aber als mit dem Hitler-Stalin-Pakt Estland der Sowjetunion zugesprochen wurde, mussten die deutschstämmigen Familien Estland verlassen. Meine Großeltern taten dies 1940 (Angaben ohne Gewähr), in der Hoffnung nach dem Krieg wieder zurückkehren zu können. Tja, daraus wurde leider nichts.

Die Familie meiner Großmutter
Die Familie meiner Großmutter (rechts)

Als Kind interessiert man sich leider für dieses Thema relativ wenig. So bleiben mir nur die Erinnerungen an die Luftpostbriefe, die ab und an bei uns eintrudelten, und eine handvoll estnische Wörter wie „ema“, „vanaema“, „isa“, „vaneisa“ oder „üks“, „kaks“, „kolm“. Die Briefe kamen von der Schwester meiner Großmutter. Sie schrieben sich noch regelmäßig und schickten Bilder. Daher wusste ich, dass wir noch Verwandte in Estland haben. Nach dem Tod meiner Großmutter 1990 hatten wir jedoch keinen Kontakt mehr. War auch sprachlich schwierig, da wir wie gesagt kein Wort estnisch können.

Die Familie meines Großvaters
Die Familie meines Großvaters

Die Familie meines Großvaters war komplett aus Estland geflohen. Alle Schwestern meines Großvaters verstarben kinderlos in Deutschland. 2 von ihnen wohnten bei uns, starben aber bevor ich geboren wurde (mein Großvater war über 20 Jahre älter als meine Großmutter und meine Mutter war auch schon 35 als ich geboren wurde). Schade dass sie nicht mehr mitbekommen dürften, dass Estland wieder ein eigenständiger Staat ist. Obwohl sie Deutschbalten waren, waren sie mit dem Land stark verbunden. Meine Mutter sagt immer, mein Großvater war mehr Este als meine Großmutter 🙂 Er war auch in der Zarenarmee als Estland unter russischer Herrschaft war und hat bis zu seinem Tode geflucht, dass sie Lenin nicht erwischt haben. Ja, wer weiß was dann passiert wäre, wenn sie es hätten …

Meine Mutter und ich hatten öfter über Estland gesprochen. Und darüber irgendwann mal das Land unserer Vorfahren zu besuchen. Aber irgendwie hatte ich mich immer drum gedrückt und mich stattdessen auf eine Estlandfahne über meinem Bett und Daumendrücken für estnische Sportler beschränkt.

Es lebe Facebook und Geni

Irgendwann diesen Winter war mir langweilig und ich habe Google mit den Namen meiner Großeltern gequält. Die Esten sind ja im Bezug auf das Internet voll süß. Und auch im Bezug auf Ahnenforschung  – ich glaub jeder Este ist bei Geni  mit kompletten Stammbaum erfasst. Also ist es eigentlich auch kein Wunder, dass ich auf digitalisiert alte deutsche Kirchenbücher aus Pärnu gestoßen bin, in denen ich meine Großeltern gefunden habe. Was dann dazu führte, dass ich meine Mutter nach alten Bildern fragte. Dann nannte sie mir noch die Namen der Kinder und Enkel von den Geschwistern meiner Großmutter. Und was soll ich sagen? Hat nur ein paar Stunden gedauert und ich hatte Kontakt mit meinen estnischen Verwandten. Es lebe Facebook 🙂

Meine Mutter war total aus dem Häuschen. Im Gegensatz zu mir, hatte sie ja schon den ein oder anderen persönlich getroffen als sie zu Besuch in Deutschland waren. Und auch sonst hat sie mehr mitbekommen als ich. Der einzige Nachteil war, sie hatte vergessen, dass da mehr als 20 Jahre vergangen waren. Die Bilder, die sie im Kopf hatte, waren nicht mehr ganz aktuell. Du frag mal dies und frag mal das. Und unabhängig davon, war klar: Dieses Jahr fahren wir nach Estland! Widerstand war zwecklos 😀 Also ab nach Pärnu – in die Stadt unserer Vorfahren! Und wo wir schon mal da sind, dann auch noch ein paar Tage Tallinn. Die Hauptstadt Estlands darf man nicht nur als Umsteigebahnhof benutzen.

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