Urlaub in Estland – Tag 1 Tallinn

Abflug mit kleinen Hindernissen

Viertel nach 5 – der Wecker klingelt, das Adrenalin steigt. Immerhin 3 Stunden Schlaf. Dachte schon ich schlaf gar nicht. Noch mal Unterlagen prüfen: alle Unterlagen da, Geld da, Handy da –  den Rest kann man kaufen.  Taxi kommt widererwarten auch pünktlich, Mutter einsacken und ab geht’s … in den Stau! Scheiß Baustelle. Naja, haben ja noch Luft und wir kommen noch recht pünktlich am Flughafen an. Verdammt die Taxipreise werden auch immer schlimmer. 80 Euro – das war vor 2 Jahren noch 10 Euro billiger. Nun gut, einckecken am Automaten. Öhhhhh, der is aber anderes als bei der Lufthansa-Demo-Seite. Öhhh … ahh nette Dame die hilft. Ach man kann jetzt das Gepäck auch gleich am Automaten aufgeben. Nicht, dass ich mir gemerkt hatte, wie das geht, aber ich weiß jetzt, dass es geht :-D. Ohne Piep durch die Sicherheitskontrolle ist auch was neues. Geht ja wie am Schnürrchen … bis jetzt! Inga hat ihr Ticket an der Sicherheitskontrolle verbasselt. Panik! Ok, meine hält sich in Grenzen. Während Inga noch mit der „sehr freundlichen“ Dame an der Kontrolle rum tut, frag ich mal einen netten Sicherheitsmenschen, ob man irgendwo ein neues Ticket kriegt – wir sind ja schließlich eingecheckt. Ok, geht. Na dann, wieder was gelernt. .. ahh und schau mal mit dem nächsten Körbchen kommt auch das vermisste Ticket angefahren. Dann ist ja wieder alles gut. So nochmal Inga beruhigen und ab zum Gate 85 oder 95 oder so. Das ist quasi Hintertupfigen am Münchner Flughafen. Endstation, weiter gehts nimma. Was für ein Glück, dass es diese Rollbänder gibt, sonst hätten wir schon am Flughafen schlapp gemacht. Meine letzten Worte in Endlosschleife vor dem Abflug: Ich werde sterben! So sollte ein Urlaub anfangen 😀

Ankunft

Blick aus dem Hotelfenster auf Toompea Turm
Blick aus dem Hotelfenster auf Toompea Turm

Rums, gelandet. Süßer, kleiner, schnucklicher Flughafen. Und nun? Irgendwo gibt’s Busse. In Estland gibt es überall Busse. Ok, es gibt eindeutig zu viele für mich und wo ist jetzt der Ticket-Kiosk?? Also Infoschalter. Uaaaa Englisch reden! Ach stimmt, da war doch was. Ich hasse Fremdsprachen. Die Lösung heißt Airport-Shuttle Bus 90 K. Schlappe 2 Euro pro Person (Liebe Münchner denkt mal drüber nach!) und dafür gibts quasi gleich eine Stadtrundfahrt. Der Bus fährt einmal rund um die Innenstadt und hält an allen wichtigen Plätzen (Hotels). Und das alle 20 Minuten. Die Dame nennt mir auch gleich die Station wo wir raus müssen. Station 12 bedeutet, dass wir fast zum Schluss raus müssen und somit eine kostenlose Stadtrundfahrt bekommen. Irgendwie sitzen lauter Deutsche im Bus 🙂 … Irgendwann möchte eine estnische Oma einsteigen. Der Busfahrer erklärt ihr, dass dies 2 Euro kostet. Schimpfend – ich versthe nur was von Schmarotzki oder so –  steigt sie wieder aus. Naja der Stadtbus ist ja billiger. So jetzt noch mal Handy raus und Google Maps befragen. Und schon sind wir pünktlich kurz nach 14 Uhr im Hotel. Mit perfektem Blick auf dem Toompea Turm, auf dem jeden Tag die estnische Fahne gehisst wird (inklusive Nationalhymne).

Bahnhof

Zug nach Türi am Tallinner Bahnhof
Zug nach Türi am Tallinner Bahnhof

Und gleich ab ins Vergnügen. Da die Tallinn Card in unserem Hotel doch allen Ernstes ausverkauft ist, kaufen wir die halt im Hotel Shnelli am Bahnhof – ich find den Namen so geil :-).  Nachdem das erledigt ist, schauen wir uns am Bahnhof um. Dafür, dass hier so gut wie keine Züge fahren, sind 9 Gleise schon sehr beachtlich. Gut, die Züge schauen nicht sehr modern aus und lang sind sie auch nicht, aber immerhin sind welche da. Und es steigen sogar 10 Leutchen ein. Völlig undenkbar in Deutschland. Der Hauptbahnhof der Hauptstadt entspricht einem Bahnhof in einer deutschen Kleinstadt. Aber auch logisch, wenn man weiß, dass das Schienennetz sehr dürftig ist und die Züge sehr langsam fahren. Busse verkehren hingegen zwischen allen Städten ohne Zwischenhalt und sind klimatisiert und sogar mit Wifi ausgestattet. Dann nimmt man eben den Bus anstelle Bahn.

Schlümpfe gibt es auch in Tallinn

versauter Schlumpf
versauter Schlumpf

Neben dem Bahnhof gibt es einen kleinen Markt. Sah sehr russisch aus. Ich hätte mir da doch glatt ein Schlumpf-Shirt gekauft. Ich wusste gar nicht, dass Schlumpfe was zum vermessen haben … Aber nun gut, wir wollen ja nicht gleich am ersten Tag mit Blödsinn anfangen. Ansonsten gab es dort wie auch auf deutschen Märkten so mehr oder weniger alles. Angefangen von Obst und Gemüse, Klamotten bis hin zu Handwerkszeug und alten russischen Kinderbüchern. Da mein Magen knurrte, haben wir uns mal ein wenig am Bahnhof umgeschaut. Am Bahnhof muss es doch was zu essen geben. Sei er auch noch so klein. Erfreulicherweise erblickte ich einen Burger-Stand.

Merke: Cheeseburger ist nicht gleich Cheeseburger

Cheeseburger auf estnisch
Cheeseburger auf estnisch

Na dann mal nen Cheesburger kaufen. Ok, ich war dann etwas irritiert als die Dame ein Brötchen aus der Verpackung holt und dies dann in die Mikrowelle packte. Gut, das mach ich zu Hause auch, aber ich verkauf die Dinger ja net. Als sie mir dann das Ding in die Hand drückte, verging mir leider der Appetit. Majo auf einem Cheeseburger. Und das nicht zu knapp!1 Dazu Karotten und Weißkraut. Und irgendwas fleischartiges, was ich nicht ganz interpretieren konnte. Da nicht mal meine Mutter das Ding verspeisen wollte, landete es leider im Mülleimer.

Merke: Mehrere Wege führen zum Toompea-Schloss

Alternativer Weg zum Toompea Schloss
Alternativer Weg zum Toompea Schloss

Dann muss halt der Notrations-Müssliriegel dran glauben. Frisch „gestärkt“ gehts auf die andere Straßen Seite zum Toompea-Schloss. Wobei ich sagen muss, dass wir keine Ahnung hatten, wohin diese Treppen führen, als wir uns entschieden, den Menschen zu folgen die sich unendlich lange Treppen nach oben quälten. Dummer Weise dachten wir, nach der Hälfte, dass wir nicht weiter Treppen steigen  wollen und sind einfach in die andere Richtung abgebogen. Böser Fehler.  Währen die Treppen schön schnurstracks nach oben führen, war dies die alternative Route auf schmalem Trampelpfad ohne Geländer die Stadtmauer entlang nach oben. Das ist ja so rein gar nichts für meine Höhenangst. Ok, es gab einen schönen Ausblick auf den Park und Sportplätze, aber mit runter gucken war bei mir nicht viel. Oben hab ich erst einmal drei Kreuze gemacht.

Selbstzerstörendes Klo

Junge Möwe
Junge Möwe

Oben auf der Aussichtsplattform erblickte Inge freudestrahlend ein Toilettenhäuschen. Ich sage es euch, so was hab ich noch nie gesehen. Behindertengerecht also vergleichbar mit den ICE-Klos nur größer. 20 Cent reingeworfen und Inge reingesteckt. Ich hab mir dann die Zeit mit einem für mich unidentifiziertbarem Vorgel vertrieben. Nachdem ich jetzt etwas geforscht habe, glaube ich, dass es eine junge Möwe war. Sehr zutraulich und gar nicht ängstlich diese Jungvögel. … So nach 5 Minuten wundere ich mich, ob Inge vom Klo verschluckt wurde. Auf Nachfragen meint sie, sie findet die Spühlung nicht. Also Bedienanleitung lesen (ist ja alles schön drauf geschrieben – außen!!) Ich einige mich dann mit mir selbst, dass es sich um ein selbstzerstörendes emm selbstreinigendes Klo handelt. Und ernsthaft, wenn man das Ding verlässt, geht die Autowaschanlage los 🙂 Ich wusste gar nicht, dass es so was gibt. Plädiere dafür so was auch in Deutschland einzuführen. Wäre sicher für die ein oder andere Folge „Verstehen Sie Spaß“ gut geeignet 😀

Merke: Ein Tourist ist ein gutes Opfer wenn es um Nahrung geht!! Das ist überall so!

Rathaus
Rathaus

Jetzt aber was essbare suchen! Also vorbei an einigen Sehenswürdigkeiten ab in das Zentrum der Altstadt. Dort gibt es sehr viele kleine Restaurants, wo vor jedem ein nettes junges Mädel oder Junge steht, die/der einen einläd was zu essen. Ist quasi wie auf Malle wo man in Discos geschleppt wird. Hier halt zum Essen. Wobei das schon sehr nervig ist. Aufgrund des starken Hungers einigen wir uns auf was bekanntes und keine Experimente mit unbekanntem estnischen Essen. Schon wieder schwerer Fehler. Meine Mutter kriegt ne Pizza Magaritha für knapp 10 Euro und ich eine vegetarische Pizza für 13 oder so. Preis-Leistungs-Verhältnis ist miserable, da macht sogar der Inder in Pfaffenhofen ne bessere Pizza. Der Schock kommt aber erst bei der Rechnung. Das Glas Bier (0,5) kostet schlappe 7 Euro. Das übersteigt sogar die Wiesenpreise!! Naja, ich nehme das nicht so tragisch und muss tierisch lachen, aber noch mal mach ich das nicht! Zur Sicherheit frage ich demnächst bevor ich ein Bier bestelle!

Hafen

Schiffsrestaurant
Schiffsrestaurant

Gestärkt machen wir uns dann wieder auf die Socken und marschieren Richtung Hafen. Vorbei an Parkanlagen mit Bogenschützen, Stadtmauern und sehr viel Kopfsteinpflaster. Es ist ein schöner lauer Abend und die Sportler kommen aus ihren Löchern. Ich hab irgendwie das Gefühlt, dass der Hafen Treffpunkt für Jogger und Radler ist. Neben den Terminals für die großen Fähren gibt es auch einen netten Hafen für kleine Jachten. Ok, die Boote sind kleiner als in Monaco 🙂 aber die würden auch nicht hierher passen. So langsam wird es kalt, vor allem bei der steifen Brise am Hafen. Und so langsam schmerzen die Füße. Also machen wir uns auf den Weg zurück.

Merke: alle Wege führen zur Alexander Nevsky Cathedral oder zum Freiheitsplatz

Alexander Nevsky Cathedral
Alexander Nevsky Cathedral

Gehen wir also am besten den gleichen Weg zurück den wir gekommen sind. Mehr oder weniger. So groß ist die Altstadt nun doch nicht, dass man sich verlaufen könnte. Bis zum Freiheitsplatz war das auch alles kein Problem. Nur dann war die Frage, wie wir ohne diesen Trampelpfad an der Stadtmauer entlang zum Bahnhof bzw. zum Hotel gelangen. Das ganze endete trotz Google Maps darin, dass wir Kreise um die Alexander Nevsky Cathedral drehten. Ich habe jetzt eine Phobie was diese Kirche betrifft und mag sie nie wieder sehen. Obwohl sie ja nicht schlecht ausschaut. Und wenn wir nicht an diese Kirche rauskamen, dann halt auf dem Freiheitsplatz. I feel so lost in Tallinn :-D. Und das trotz Karte – und ich kann eigentlich Karten und Straßennamen lesen – Wifi und Google Maps Navigator.

Die rettenden Treppen

Tallin am Abend
Tallin am Abend

Nach gefühlten 10 Stunden kamen wir doch wider erwarten an der Aussichtsplattform an, zu der die Treppen führten, die wir zu Beginn verschmäht hatten. Das ganze hatte einen Vorteil. Mittlerweile war Sonnenuntergang und wir hatten zwischen gefühlten 1000 Liebespaaren immerhin einen netten Blick auf Tallinn in orangem Sonneruntergangslicht.

Endlich im Hotel angekommen durften wir noch der estnischen Hynme lauschen, währen die Fahne auf dem Toompea Turm eingeholt wurde. 7 Stunden über Kopfsteinpflaster laufen sind eine ideale Schlaftablette 🙂 Da schläft man in jedem Hotelbett mit oder ohne Straßenlärm wie ein Murmeltier!

Alles in allem ein anstrengender aber dennoch schöner und interessanter Tag. Viel gesehen, viel neues gelernt und auch viel gelacht 😉

Urlaub in Estland – Prolog

Als ich ein Kind war, sagten meine Freunde immer, dass meine Oma komisch spricht. Mir ist das nie aufgefallen, weil ich es ja gewohnt war. Aber ich hatte immer eine Antwort: Sie kommt aus Estland. Ich wusste, dass sie im Zweiten Weltkrieg Estland verlassen mussten und nach Deutschland kamen. Meine Oma sprach kein Wort Deutsch als sie hier ankam. Da bleibt eben ein kleiner Akzent.

Meine Großeltern und ich 1977
Meine Großeltern und ich 1977
Meine Großeltern mit meinem Onkel in Estland 1937
Meine Großeltern mit meinem Onkel in Estland 1937

Mein Großvater  – Heinrich der Sechste oder so – starb als ich fünf war mit über 90. Er war Deutschbalte. Soll heißen, seine Familie war deutsch und ließ sich irgendwann einmal in Estland nieder. Wann genau weiß ich nicht. Wie so viele andere deutsche Familien auch, als Estland und Lettland von Deutschen (Deutscher Orden) besetzt war. Meine Großmutter war eine echte Estin ohne deutsche Wurzeln. Aber als mit dem Hitler-Stalin-Pakt Estland der Sowjetunion zugesprochen wurde, mussten die deutschstämmigen Familien Estland verlassen. Meine Großeltern taten dies 1940 (Angaben ohne Gewähr), in der Hoffnung nach dem Krieg wieder zurückkehren zu können. Tja, daraus wurde leider nichts.

Die Familie meiner Großmutter
Die Familie meiner Großmutter (rechts)

Als Kind interessiert man sich leider für dieses Thema relativ wenig. So bleiben mir nur die Erinnerungen an die Luftpostbriefe, die ab und an bei uns eintrudelten, und eine handvoll estnische Wörter wie „ema“, „vanaema“, „isa“, „vaneisa“ oder „üks“, „kaks“, „kolm“. Die Briefe kamen von der Schwester meiner Großmutter. Sie schrieben sich noch regelmäßig und schickten Bilder. Daher wusste ich, dass wir noch Verwandte in Estland haben. Nach dem Tod meiner Großmutter 1990 hatten wir jedoch keinen Kontakt mehr. War auch sprachlich schwierig, da wir wie gesagt kein Wort estnisch können.

Die Familie meines Großvaters
Die Familie meines Großvaters

Die Familie meines Großvaters war komplett aus Estland geflohen. Alle Schwestern meines Großvaters verstarben kinderlos in Deutschland. 2 von ihnen wohnten bei uns, starben aber bevor ich geboren wurde (mein Großvater war über 20 Jahre älter als meine Großmutter und meine Mutter war auch schon 35 als ich geboren wurde). Schade dass sie nicht mehr mitbekommen dürften, dass Estland wieder ein eigenständiger Staat ist. Obwohl sie Deutschbalten waren, waren sie mit dem Land stark verbunden. Meine Mutter sagt immer, mein Großvater war mehr Este als meine Großmutter 🙂 Er war auch in der Zarenarmee als Estland unter russischer Herrschaft war und hat bis zu seinem Tode geflucht, dass sie Lenin nicht erwischt haben. Ja, wer weiß was dann passiert wäre, wenn sie es hätten …

Meine Mutter und ich hatten öfter über Estland gesprochen. Und darüber irgendwann mal das Land unserer Vorfahren zu besuchen. Aber irgendwie hatte ich mich immer drum gedrückt und mich stattdessen auf eine Estlandfahne über meinem Bett und Daumendrücken für estnische Sportler beschränkt.

Es lebe Facebook und Geni

Irgendwann diesen Winter war mir langweilig und ich habe Google mit den Namen meiner Großeltern gequält. Die Esten sind ja im Bezug auf das Internet voll süß. Und auch im Bezug auf Ahnenforschung  – ich glaub jeder Este ist bei Geni  mit kompletten Stammbaum erfasst. Also ist es eigentlich auch kein Wunder, dass ich auf digitalisiert alte deutsche Kirchenbücher aus Pärnu gestoßen bin, in denen ich meine Großeltern gefunden habe. Was dann dazu führte, dass ich meine Mutter nach alten Bildern fragte. Dann nannte sie mir noch die Namen der Kinder und Enkel von den Geschwistern meiner Großmutter. Und was soll ich sagen? Hat nur ein paar Stunden gedauert und ich hatte Kontakt mit meinen estnischen Verwandten. Es lebe Facebook 🙂

Meine Mutter war total aus dem Häuschen. Im Gegensatz zu mir, hatte sie ja schon den ein oder anderen persönlich getroffen als sie zu Besuch in Deutschland waren. Und auch sonst hat sie mehr mitbekommen als ich. Der einzige Nachteil war, sie hatte vergessen, dass da mehr als 20 Jahre vergangen waren. Die Bilder, die sie im Kopf hatte, waren nicht mehr ganz aktuell. Du frag mal dies und frag mal das. Und unabhängig davon, war klar: Dieses Jahr fahren wir nach Estland! Widerstand war zwecklos 😀 Also ab nach Pärnu – in die Stadt unserer Vorfahren! Und wo wir schon mal da sind, dann auch noch ein paar Tage Tallinn. Die Hauptstadt Estlands darf man nicht nur als Umsteigebahnhof benutzen.

AGA: Babel, Biathlon, Estland, scharfe Zungen

… oder eine weitere Geschichte über die Unfähigkeit der Menschen zur Co-Existenz ??

Ich schau auf meine estnische Tischfahne – ja so ein Teil, das man gewöhnlich bei einer Fußball-WM in den deutschen Farben auf dem Tisch hat – und frag mich, ob ich jemals wieder im Winter damit wedeln kann oder überhaupt will.

Ich glaube so viel Englisch wie in den letzten Wochen habe ich die ganzen 34 Jahre meines Lebens vorher nicht von mir gegeben. Ich fang schon an auf Englisch Selbstgespräche zu führen. Mal ganz zu schweigen von der Tatsache, dass der Google Übersetzer und mein dickes fettes Estnsich-Deutsch-Wörterbuch meine treusten Freunde geworden sind. Ab und ran kommt auch noch Russisch dazwischen. Man Kopf fühlt sich an wie der reinste Buchstabensalat. Dass ich als allseits bekanntes Sprachtalent überhaupt noch gescheit kommunizieren kann, grenzt an ein Wunder. Der Turmbau zu Babel ist nichts dagegen. Und ich habe das dringende Bedürfnis all den Krams mal in meiner Muttersprache von mir zu geben. Das wird zwar keine Sau interessieren, aber ich habe es mal gesagt.

Tagtäglich toben sie direkt neben uns. In jeder Firma, irgendwo in einem Büro. Diese kleinen blutigen Kriege. Und wir nehmen sie nur war, wenn wir mitten drin sind oder einen Logenplatz haben. Nein, wir sehen sie nicht wenn sie unser Blickfeld verlassen, auch wenn wir den Kämpfern tagtäglich flüchtig begegnen. Tagtäglich toben sie sich aus, die Herren die sich profilieren wollen und über Leichen gehen. Tagtäglich gibt es neue Opfer. Nur wir sehen sie nicht.

Ja die schöne heile deutsche Biathlonwelt.  Erfolg, Geld, Fans … wer interessiert sich da schon für die kleinen Exoten wie die Esten (na ja bis auf so was: „Selbst Exoten wie Fuyuko Suzuki aus Japan oder Kadri Lehtla aus Estland hatten der Biathlon-Königin im Einzel den Rang abgelaufen.“ Oder noch besser die Eurosport-Kommentatoren, die gern das für die Fernsehübertragung zu große Starterfeld um die Exoten bereinigen würden. Nein, niemand weiß, was für den ein oder anderen Exoten ein Top30 Platz bedeutet. Was dahinter steckt. Wer steckt dahinter … welcher Kampf …

Cakars begrüßt Lehtlas gute WM-Rennen, war aber immer noch der Auffassung, dass die Teilnahme am  IBU-CUP falsch war: „Sie sehen, was dabei heraus kam – ich sagte Lehtla zu Beginn der Saison fünf Mal: Kadri, bitte tritt im Weltcup an. Aber sie wollte nicht. Und daher ist es jetzt  nicht wirklich der Zeitpunkt, um die  Top30 anzustreben.“  (Anmerkung: Reaktion Cakars auf Lehtlas Enttäuschung nicht beim Weltcup-Finale in Chanty-Mansijsk starten zu können)

Diese Worte ereilten mich, als ich gerade dabei war besagter Kadri Lehtla zu erklären, dass sie stolz auf sich sein solle. Stolz auf das, was sie in dieser Saison erreicht hatte. Zu einer Zeit, wo auch ich noch auf das ein oder andere weiter gute Rennen in der sibirischen Kälte gehofft hat. Mit vielleicht etwas mehr Lockerheit als bei der WM. Am Ende wo es nichts mehr zu gewinnen oder zu verlieren gab bzw.  wo der sportliche sieg schon längst eingefahren war und man genießen kann … aber da war sie wieder die Realität. Dieser kleine Krieg, wie er alltägliche überall tobt. Dieser Krieg, der mich schon im November kalt erwischt hatte. Den ich damals schon nicht verstand. Und wie sagt ich damals so schön: „Ich glaube ich habe einiges verpasst seit letztem April. Und ich glaube ich werde bis April brauchen, um mich auf den aktuellen Stand zu bringen.“ … verdammt wie wahr … Manchmal holen einen die eigenen Worte wieder ein.

Du wachst aus deinem Sommerschlaf auf und freust die auf die Wintersportsaison und wirst plötzlich damit konfrontiert, dass die bisher beste estnische Biathletin Eveli Saue offiziell ein Jahr Pause einlegt (Anmerkung: ob sie wiederkommt ist offen) und die bis dato zweitbeste estnische Biathletin Kadri Lehtla auch letzten April öffentlich darüber nachdenkt, ihre Karriere im Alter von 26 Jahren zu beenden. Glücklicherweise entschied sie sich jedoch dafür ihre Karriere fortzusetzten – jedoch außerhalb der Nationalmannschaft zu trainieren. Und dann knallt dir plötzlich gleich die von der Verbandsführung angeheizte Diskussion über ihre Entscheidung im IBU-Cup zu starten ins Gesicht. Und du verstehst nur Bahnhof. Und du fragst dich, wo du denn da gelandet bist. Was ist am IBU-Cup falsch? Warum muss ein Trainer öffentlich sagen, dass er nicht möchte, dass ein Athlet im IBU-Cup startet. Warum ist der Weltcup der Nabel der Welt? Und der IBU-Cup die Hölle? Was ist daran falsch, wenn ein Athlet sich mit guten Resultaten in der zweiten Liga neu motivieren möchte? Warum das dann auch noch öffentlich kritisieren? … Oder ist das einfach nur Rache? Rache, weil jemand entschieden hat, seinen eigenen Weg zu gehen. Aber müssen wir dies nicht ab und an tun?  Unseren eigenen Weg gehen, wenn wir feststellen, dass es zusammen nicht wirklich funktioniert.

Um so schöner, wenn das Resultat zeigt, dass es richtig war. Oder wie soll man sonst folgendes bewerten: beste Weltcupplatzierung der Karriere, Platz 22 im Einzelrennen bei der WEM und somit besser als M. Neuner, D.Domracheva etc., 6 Top30 Platzierungen im WC, Platz 28 in der WC-Gesamtwertung der Einzelrennen, Verdreifachung der gewonnen Weltcuppunkte im Vergleich zu den Jahren davor, Führende in der Gesamtwertung des IBU-Cups nach 9 Wettbewerben, erstmals estnische Meisterin im Skilanglauf und und und …

„Kadri Lehtla: Man, man, man – wenn die von Beginn an dabei gewesen wäre… – oder sie sollte öfter mal pausieren“  (Kommentar von Marcus auf meiner Wiki-Diskussionsseite)

Und am Ende realisieren das nur wenige Leute – und davon sitzen auch noch einige im Ausland. Mal ganz zu schweigen vom Cheftrainer und dem Verband, die einem weiß machen wollen, wie toll doch die Athleten, die mit der Nationalmannschaft trainieren, in dieser Saison abgeschnitten haben. Nein stattdessen macht der Verband Fehler und hakt auf seiner besten Athletin rum …

„Ja vielleicht bin ich schuld, aber was soll ’s? … Aber XYZ hat/ sollte/ müsste .. ach, aber Sorry an meinen guten Freund A, der hier unverschuldet zwischen die Räder gekommen ist!“

Eindeutig mein Highlight der letzten Wochen. Der Satz macht mich wahrscheinlich so wütend, da er so bezeichnend ist – so gewöhnlich. So gleich zu dem, was ich immer wieder im Alltag erlebe. Menschen in Führungspositionen (ich lass jetzt mal bewusst unsere Politiker weg), die es nicht schaffen Fehler einzugestehen ohne mit dem Finger auf andere zu zeigen. Die nicht daran interessiert sind, die Ursache zu beseitigen, so dass die gleichen Fehler nicht wieder passieren.  Nein, man ist damit beschäftigt, die Schuld von sich zu schieben, auch wenn man selbst Schuld ist. Und wenn man dann schief angeschaut wird, dann fängt man an wild um sich zu schlagen und hat nur noch ein Messer zwischen den Zähnen. Koste es was es wolle. Jetzt gilt es nur noch seinen eigenen kleinen Arsch zu retten. Was interessiert mich mein Gegenüber.

Der von mir oben angeführte Satz stammt aus einem Interview mit dem estnischen Verbands-Präsidenten, der darauf reagieren musste, dass Kadri Lehtla öffentlich gemacht hatte, dass ihr der Start in Chanty-Mansijsk vom Verband im Dezember zugesagt wurde. Ich erwähne dies nur deshalb, weil in besagtem Interview kritisiert wurde, dass Lehtla an die Öffentlichkeit ging und somit öffentlich Kritik äußerte. Wer im Glashaus sitzt, sollte aber nicht mit Steinern werfe, liebe Herren vom estnischen Verband. Jemanden für eine öffentliche Kritik zu kritisieren und gleichzeitig selbst öffentlich zu kritisieren, wie in diesem Interview hinreichend geschehen, gibt kein gutes Bild. Alles andere als ein gutes Bild.

Und dabei wäre es doch so einfach gewesen. „Mein Fehler (Punkt). Sorry Kadri (Punkt). … auch wir sind noch am Lernen wie wir mit dieser Herausforderung umgehen sollen. Wir werden dies in Zukunft besser machen (Punkt).“ …

Ach ja, ein Start der besten estnischen Biathletin in Sibiriern war nicht möglich, da Estland aufgrund von Geldmangel nur drei Teilnehmer schicken konnte. Da die estnische Männer-Mannschaft die Möglichkeit hatte den 15. Platz in der Nationenwertung zu erreichen und  somit einen vierten Startplatz für die kommende Saison. Ergo wurden drei männliche Starter geschickt. Prinzipiell nichts dagegen einzuwenden. Aga (aber)  die Situation war nicht erst drei Tage vor dem Abflug nach Sibiriern bekannt und ich bin immer noch der Ansicht, dass man die fehlenden 400 Euro auftreiben hätte können. Und wenn ich mich persönlich mit der Sammelbüchse in Ruhpolding an die Strecke gestellt hätte. Man hätte die Situation ohne öffentliche Schlammschlacht lösen können. Man hätte es nur wollen müssen. Und das werde ich nie verzeihen. Und die dann folgenden und oben erwähnten Aussagen schon mal gar nicht. Nein ich werde mich immer dran erinnern.

Hab mich fleißig im Schlamm gewälzt und daher Babel-Chaos im Hirn. Und ich hoffe immer noch, dass meine Gegner/ Diskussionspartner einfach „Biathlon-Fans“ sind und nicht mehr … ansonsten Gute Nacht estnisches Biathlon. Die Schockstare lässt nur langsam nach. Mal ganz zu schweigen von der Tatsache, dass auch Berichte, die mit diesem Thema hier so rein gar nichts zu tun hatten, negativ gegen Lehtla kommentiert wurden. Und die erbrachten Leistungen niedergemacht wurden. Und wie gesagt, ich hoffe immer noch die Schreiberlinge einfach „Biathlon-Fans“ sind, die einfach nur auf der anderen Seite stehen, und nicht mehr.

Es gibt keine Probleme, es gibt nur Herausforderungen.

Ich kam zu dem Schluss, dass alles schon vor der Verpflichtung Cakars begonnen hat. Wo sich bei einigen Athleten schon Widerstand gegen Cakars zeigte. Wo Athleten wie Saue und Lehtla einen finnischen Trainer befürworteten, mit dem sie schon länger zusammen arbeiten. Alles in allem kein guter Start, wenn man als Trainer oder Chef oder was auch immer irgendwo anfängt, wo man weiß, dass einige dich nicht haben wollen und auch noch mit deinem Konkurrenten weiter zusammenarbeiten. Wenn du dann nicht als Verband/ Firma steuernd eingreifst, dann wird das ganze zu einem Selbstläufer. Emotionen auf beiden Seiten. Kampf auf beiden Seiten. Es kann nur einen (Weg) geben. Missverständnisse. Vieles kennen wohl nur die Beteiligten selbst. Und am Ende, ja am Ende gibt es nur Verlierer. Und die größten Verlierer sind die Fans.

Ich lass letztens das Wort Symbiose. Aber so weit will ich nicht gehen. Ich bin für Co-Existenz. Man hätte Cakars die Arbeit mit den jungen Talenten machen lassen sollen. Und wer sonst noch mit einem lettischen Trainer arbeiten will, der nur Russisch spricht und außer einer guten Athletin, die er betreute, auch nichts im Lebenslauf vorzuweisen hat. Und Saue, Lehtla und Co. privat trainieren lassen sollen. So wie auch ein Michael Greis. Und wenn die Leistung stimmt, dann haben alle etwas davon. Klar ist das mehr Koordinationsaufwand für einen Verband. Mehr Kommunikation etc. Aber nicht unlösbar. Man hätte es nur wollen müssen. Es hätte so einfach sein können. Stattdessen, ja stattdessen tobt ein Krieg. Und am Ende gibt es nur Verlierer.

Ich weiß nicht, was die nächste Saison bringen wird. Aber irgendwie habe ich etwas Angst davor. Noch mehr Druck? Zu hohe Ziele? Jedes schlechte Resultat ein gefundenes Fressen? Und die Unbeschwertheit …  ? Werden meine Worte noch mal so einen Bedeutung haben, wie in den letzten Tage der Saison? Werden wir überhaupt noch mal eine Chance haben nächste Saison? Oder werden demnächst Leichen vom Schlachtfeld getragen? …

Ich schau auf meine estnische Tischfahne – ja so ein Teil, das man gewöhnlich bei einer Fußball-WM in den deutschen Farben auf dem Tisch hat – und frag mich, ob ich jemals wieder im Winter damit wedeln kann oder überhaupt will. … Einfach nur ein Staubfänger? – Dafür gibt es ja Staubsauger. Und die kann man ja bei der estnischen Biathlon-Meisterschaft als Hauptpreis gewinnen.